Rainer Schiffer: Kunst des Unterwegsseins, von Dr. Peter V. Brinkemper
Rainer Schiffer ist ein Künstler der zurückhaltenden Art. Einer, der mit dieser Rolle vorsichtig und hoch sensibel umgeht. Sein ständig präsenter Humor scheut die Übertreibung, das Pathos, die Wuchtigkeit, die direkte Invasion in das Herz und das Hirn der Betrachter.
Rainer Schiffer ist ein aufmerksamer Entdecker, der uns einfach einlädt mitzukommen, ein zärtlicher Sammler und liebevoller Kommentator, der auffordert, selbst zu schauen und uns und unsere Phantasie in Gang zu setzen. Er vermittelt das Gefühl des Reisens, ein Zustand, der Rainer Schiffer im Blute liegt. Reisen von Kontinent zu Kontinent, aber vor allem das innere Unterwegssein, die seelische Offenheit und geistige Aufgeschlossenheit, die dazu führt, dass Eindrücke wirklich zu Ein-Drücken werden, die unsere Anschauung erweitern und fördern, weit hinaus über jene festen alltäglichen Wahrnehmungen, welche die immer gleiche, starre Routine ausmachen. Eindrücke im Unterwegs also, die in ihrer lebendigen Dynamik, in ihrer intensiven Flüchtigkeit erhalten bleiben und uns auch dann noch an das Unterwegssein erinnern, wenn wir gerade nicht unterwegs zu sein scheinen. Die Kunst des Unterwegsseins meint den ständigen Übergang des Denkens und Erlebens, zwischen Unauffälligem und erstem AuffaIlen, zwischen Auftauchen und Verschwinden, zwischen Verdecken und Entdecken, zwischen Verbergen und Erscheinen.
Diese Bewegung finden wir in Rainer Schiffers Gemälden wieder. Sie sind keine Bilder des Sichtbaren, sondern Bilder, die dem Unsichtbaren geweiht sind. Obwohl es auf ihnen viel zu sehen, vor allem aber, in mehrfachem Sinne, viel zu lesen gibt. Seine großformatigen Werke weisen freie, oft mehrschichtige Farbflächen und gegenstandsähnliche, architektonische Farbformen auf.
Man trifft auf Fundstücke und Fragmente, auf immer neue, zahllose intensive Impulse. Aus ihrem Gewoge und Gewebe ragt die Natur hervor, und spielt mit gezackten, unvollständigen Formen, Linien, Graten und Schründen, instrumentiert auf ihre Weise unsere Phantasie und Vorstellungskraft mit würzigen Melodien und minimalistischen Rhythmen. Rainer Schiffer gibt den Dingen und ihrer Darstellung eine bestimmte Wendung, einen Drall in eine über- und außer- gegenständliche Richtung. In den alten Mythen ist die Materie eine Ursuppe, die vor sich hinbrodelt. Aber in Schiffers Bildern erreicht sie ihren Festzustand, und bekommt Stückchen für Stückchen ein neues Vorne und ein neues Hinten, ein anderes Oben und ungewohntes Unten, die ihr so bisher nicht zukamen.
Dabei sind die feinen und groben Spuren des Pinsels, die graphischen Konstruktionen und die verwendeten freien Schriftzeichen und symbolischen Knäuel deutlich voneinander unterscheidbar. In einer radikalen Lesart kann man die malerischen Spuren und Schichten über ihre natürlich-sinnliche Wahrnehmungsqualität hinaus ebenso als lesbare Zeichen nehmen und die geometrischen oder architektonischen Konstruktionen in ihrer naturhaften Andeutung, Verwischung und Verwehung als eng mit der Naturalität des malerischen Prozesses verbundene Phänomene deuten. Die Leinwand dient Rainer Schiffer weder als ein realistisches Darstellungsfenster, noch als fotoähnliches Abbild der Welt. Rainer Schiffers Gemälde sind Orte, Karten, Gewebe, Texturen, Reliefs, auf denen sich Farblandschaften aus vielen geologischen Schichten bilden, die sich gleichsam zu verschiedenen Zeiten ablagern und immer wieder umgedeutet werden. Wenn wir genau hinschauen, entziffern wir zahllose Bewegungen der malenden und zeichnenden Hand, den expressiven Körperrhythmus der malerischen Produktion, vollziehen wir nach, wo das Bild von einer Farbe oder einer Form geduldig träumt, sie anwendet, als Aussage aufstellt oder wieder verwirft, aber auch, wo uns die Zeichen und Symbole einer Botschaft in stenografischer Schriftform angedeutet werden, wo sich der Text in das Bild einschreibt und uns einen Roman eines farbigen Lebens verheißt. Rainer Schiffer versteht die Malerei als einen Prozess:„Der Weg ist das Ziel." Die Konstruktionen oder Formen, die Gegenständliches evozieren, erinnern an die schwerfallige Architektonik archaischer Bauwerke, an fernöstliche Tempelquader, aber auch an nomadische Gebilde, fragile, transportable Gestelle, wie man sie in der nomadischen Kultur, z.B. Afrikas findet, an liegende, sterbende und wiederauferstehende Figuren und Buddhas, an Gräber und Labyrinthe, Sarkophage, aber auch Podeste, Inseln, Boote und Schiffe. Sie sind allesamt aperspektivisch, unfertig, verbogen und durchlässig dargestellt, wie Schatten, Zeichen und Spuren von räumlich und zeitlich entlegenen Kultgegenständen. Das archäologische Motiv der Verwehung, Verirrung und vorübergehenden Entdeckung der Zeichen und Dinge verleiht den Bildern eine ,,realistische Romantik".
Von diesem Stil unterscheidet sich eine Reihe von Bildern, auf denen typische afrikanische Graffitis mit unmittelbarem sozialen Realismus zu finden sind.
Rainer Schiffer macht auf seinen Gemälden die Stationen seiner Reise deutlich, er hinterläßt verschiedenartige Entscheidungen, Bewegungen und Spuren, er weicht geradezu aus vor der „fertigen, makellosen, glatten Ansicht", er verschachtelt und verästelt seine Bildmotive und Farbebenen. Die Textur seiner Bilder erinnert eher an das unwegige, noch nicht begradigte Gelände, an Ausgrabungen, die sogleich fündig werden könnten, an Untertunnelungen, mit dem Plan, zur Schatzkammer vorzustoßen. Rainer Schiffer schickt den Betrachter immer wieder auf die Suche, um die Spannung zwischen den malerischen Öffnungen und Überlagerungen auszumachen und sie zu durchqueren, um für sich selbst den stimmigen Rhythmus zwischen Form und Farbe herauszufinden, die Harmonie zwischen den Zeichen und der gesamten Fläche aufzuspüren. Die Malerei wird ihm zum Abenteuer der Wahrnehmung und des Erlebens. Jedes Erlebnis, jedes Abenteuer braucht eine Herausforderung, ein Hindernis und eine Bewährung: einen Gegner, mit dem man ringen, einen Berg, den man besteigen, ein Dickicht, das man durchqueren, ein Meer, das man befahren, ein Unwetter, das man bestehen muß, um einen neuen Horizont zu gewinnen, einen Überblick über Möglichkeiten, von denen man bisher nichts ahnte. Malerei ist eine Reise für Hand und Auge, das Erleben von immer wieder überraschenden Farben und Formen, und dieses Erleben ist die beseelte, atmende Anschauung einer rätselhaften Schrift, in der zu uns die Botschaft des Lebens spricht, die wir oft nur in Bruchstücken verstehen, aber wenigstens ahnen und spüren, solange wir unsere Existenz noch austanzen und austräumen können. Hoffnungsvoll hält Rainer Schiffers Malerei die fröhliche und lichte Atmosphäre dieser Reise durch die Buchstaben- und Farbenwelt des Lebens, durch den Sinn und die Sinnlichkeit unserer Existenz fest. In einer universalen Zuversicht, die alles enthält, was die Menschheit einmal geträumt haben mag und träumen wird: die kindlich-heitere Vielfalt der frühen Hausgötter und den Zorn der noch nicht beherrschten Elemente, die verborgene Macht eines kreativen Weltenschöpfers oder auch die Erfahrung eines ebenso bedrohlichen wie faszinierenden Nichts, das hinter dem Willen, nur in dieser Welt zu existieren und nur in ihr auf eine bestimmte Art zu leben und zu leiden, lauert und lockt.